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Jahresbericht 2023

 

der Unabhängigen Kommission

zur Aufarbeitung

sexuellen Missbrauchs

im Bistum Magdeburg


 

1.        Anlass

 

In der „Gemeinsamen Erklärung über verbindliche Strategien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss-brauchs und der Deutschen Bischofskonferenz vom 28.04.2020“ (GE) ist in Punkt 4.1 zur Sicherung der Transparenz des Aufarbeitungsprozesses ein jährlicher, schriftlicher Bericht der jeweiligen in den Diözesen installierten Unabhängigen Aufarbeitungs-kommissionen (UAK) vorgesehen.

 

Die GE wurde von Bischof Dr. Feige am 10.03.2021 gegengezeichnet und damit für das Bistum Magdeburg in Kraft gesetzt. Die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Magdeburg“ wurde am 05.10.2021 mit der Berufung von 5 Mitgliedern durch Bischof Dr. Feige konstituiert. Ein Mitglied wurde auf eigenen Wunsch von der weiteren Mitarbeit entpflichtet und durch ein neues Mitglied ersetzt. Zwischenzeitlich wurden von Bischof Dr. Feige 2 weitere Mitglieder ernannt, sodass die von der GE empfohlene Zusammensetzung von 7 Mitgliedern erreicht wurde.

 

Am 12.01.2022 unterzeichnete Bischof Dr. Feige die Ordnung zur Regelung von Einsichts- und Auskunftsrechten für die Kommissionen zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener in Bezug auf Personalakten von Klerikern und Kirchenbeamten für das Bistum Magdeburg. Weiter setzte Bischof Dr. Feige die Musterordnung für die Einsicht in Sachakten am 03.04.2023 für das Bistum Magdeburg in Kraft.

 

Am 13.12.2022 wurde von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Magdeburg der erste Zwischenbericht erstellt und veröffentlicht.

Diesem schließt sich dieser Zwischenbericht für 2023 an. Zur besseren Übersichtlichkeit hat sich die Kommission entschlossen, ihren Bericht jeweils für ein kalendarisches Jahr zu erstellen.

 

 

2.        Kommissionsarbeit

 

2.1.    Mitglieder

 

Die Kommission besteht aus sieben Mitgliedern, die von Bischof Dr. Feige bis zum Oktober 2024 berufen wurden. Drei Mitglieder wurden auf Vorschlag der Regierung des Landes Sachsen-Anhalt benannt, ein Mitglied auf Vorschlag des Katholikenrats und ein weiteres Mitglied von der Diözese. 2 Kommissionsmitglieder sind Betroffene aus dem Bistum Magdeburg. Der UAK gehören folgende Mitglieder an:

 

·         Michael Giesa

·         Bodo Kandner

·         Cathrin Kubrat

·         Winfried Schubert, Vorsitzender seit 05.05.2022

·         Wolfgang Stein, Vorsitzender bis 05.05.2022

·         Werner Theisen

·         Maria Urban

2.2.    Aufgaben

 

Nach Punkt 3.1 der GE besteht die Aufgabe der Kommission in:

 

·         einer quantitativen Erhebung des sexuellen Missbrauchs in der Diözese,

·         der Untersuchung des administrativen Umgangs mit Täter:innen und Betroffenen und

·         der Identifikation von Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglicht oder erleichtert oder dessen Aufdeckung erschwert haben.

 

Dabei sollen sowohl die Erkenntnisse der „MHG-Studie“ als auch die laufenden oder abgeschlossenen diözesanen Aufarbeitungsprojekte berücksichtigt werden.

 

2.3.       Geschäftsordnung

 

Die Kommission hatte sich mit Beschluss vom 05.05.2022 eine Geschäftsordnung gegeben. Danach wurde die Kommissionsarbeit in vier Abteilungen mit je einer:m Vorsitzenden organisiert. Die Mitglieder der Kommission schließen sich mindestens einer Abteilung an.

 

Die vier Abteilungen haben folgende Arbeitsschwerpunkte:

 

·         Abteilung 1:

Recherche mit Betroffenen, Mitarbeiter:innen, Kirchenangehörigen und weiteren Personen

 

·         Abteilung 2:

Recherche anhand schriftlicher Unterlagen, z.B. Personalakten, Archivbestand-teilen, Vermerken, Archiven und damit zusammenhängenden Befragungen

 

·         Abteilung 3:

Budget- und Finanzangelegenheiten, Verwaltung, Organisation, IT-Struktur, Website, Koordination der Geschäftsstelle und ihrer Leitung

 

·         Abteilung 4:

Wissenschaftliche Vertiefung, Studien, Beratung, Forschung

 

 

2.4.    Termine

 

Die Kommission trifft sich in der Regel einmal je Monat zu Beratungen, meist in Form von Videokonferenzen.

 

 

 

 

 

 

 

3.        Berichte der Arbeitsgruppen im einzelnen

 

3.1.    Bericht der Abteilung 1: Wolfgang Stein

 

In diesem Bericht bewerten wir auch die Praktikabilität der „Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Katholischen Kirche Deutschlands“ (GE). Wir haben erkannt, dass die Unabhängigkeit unserer Aufarbeitungskommission einer konsequenten Festigung bedarf. Drei Mitglieder wurden von der Landesregierung vorgeschlagen und darauf von Bischof Dr. Feige berufen. Mindestens ein Mitglied der Kommission soll Vertreter der Diözese sein (vgl. Nr. 2.3 GE). In Nr. 2.3 GE werden konkret als Ständige Gäste die Präventionsbeauftragten bzw. Interventionsbeauftragten genannt, die von Zeit zu Zeit zu unseren Sitzungen eingeladen werden. Das Gespräch wird mit diesen Personen auch bei anderen Gelegenheiten gesucht und geführt.

 

Dass die Diözese unserer Kommission die zur Erfüllung unserer Aufgaben erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt, sehen wir als keine Beeinträchtigung unserer Unab-hängigkeit. Denn es ist Aufgabe der Kommission, selbst zu entscheiden, welche Mittel für welchen Zweck erforderlich sind. Dabei beachten wir die Grundsätze der Verhältnis-mäßigkeit und der Sparsamkeit.

 

Ähnlich wie bei Richterinnen und Richtern, deren Unabhängigkeit garantiert ist, hat die uns geleistete Aufwandsentschädigung für das Ehrenamt keinen Einfluss auf unsere Unabhängigkeit.

 

Die Mitglieder der Kommission sind für drei Jahre zu berufen (vgl. Nr. 2.4 GE), wobei eine wiederholte Berufung zwar möglich, jedoch nicht notwendig ist. Nach Nr. 4.1 GE sollen die Kommissionen bei jährlichen Zwischenberichten innerhalb von fünf Jahren einen vorläufigen Abschlussbericht vorlegen, was der grundsätzlich dreijährigen Berufung der Kommissionsmitglieder nicht entspricht. Wir gehen davon aus, dass damit lediglich eine zeitliche Korrektur möglich ist, ohne eventuell bei dieser Gelegenheit unzulässigen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission zu nehmen. Anhalts-punkte dafür bestehen derzeit nicht.

 

Zwar hat die Diözese Betroffene zur Mitarbeit am Prozess der Aufarbeitung aufgerufen (vgl. Nr. 5.2 GE). Es ist ihr aber nicht gelungen, einen Betroffenenbeirat zu bilden. Wir führen das auf die „Rahmenordnung zum Ausschreibungs- und Besetzungsverfahren sowie zur Aufwandsentschädigung für die strukturelle Beteiligung von Betroffenen“ zurück. Sie schreibt eine Mindestzahl von 5 Betroffenen für den Betroffenenbeirat vor. Die Interessenten müssen sich bewerben. Für die Auswahl wird ein diözesan zu berufendes Auswahlgremium eingesetzt, dem auch kirchliche Vertreter angehören. Es soll seine Auswahlentscheidung nach Eignung und Motivation der Bewerber treffen und dabei auf Diversität achten. Was bei der Bildung des Betroffenenrates bei UBSKM funktionierte und Modell für das Verfahren nach der Rahmenordnung war, stellt Bewerber vor große Hürden. Sie müssen sich mit ihrer Betroffenheit outen, einem Auswahlverfahren stellen und die in ihren Augen als Täterorganisation geltende katholische Kirche bei der Aufarbeitung unterstützen. Im Bistum Magdeburg ist das vorerst leider gescheitert. Anders als ein Rat hat ein Beirat keine Entscheidungsmacht, sondern ist allenfalls Impulsgeber und Empfänger von Informationen. In der Unabhängigen Aufarbeitungskommission können nur zwei von ihnen mitarbeiten. Uns ist es in Magdeburg gelungen, zwei Betroffene, die uns ihre Geschichte erzählt hatten, als Erfahrungsexperten für die Mitarbeit unmittelbar in der Unabhängigen Aufarbei-tungskommission zu gewinnen.

 

Die von den bestehenden Aufarbeitungskommissionen Deutschlands noch zu diskutierende „Auslegungshilfe für die Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland“ (AH GE) von Oktober 2023 hat versucht, die Regelungen, zu denen sich Auslegungsfragen stellen, zu konkretisieren. Ob dies erfolgversprechend ist, wird sich im Laufe des Jahres 2024 noch erweisen. Sie führt aber das Recht von Betroffenen auf individuelle Aufarbeitung ein, gibt eine Überlegungshilfe für die Kommissionen im Hinblick auf die bereitzustellenden erforderlichen Mittel, rückt vom Erfordernis der ungeraden Mitgliederzahl der Kommissionen ab, bekräftigt den Ausschluss vom Vorsitz für Mitglieder einer Betroffenenvertretung und für (ehemalige) Beschäftigte der Katholischen Kirche und bezieht das ausdrücklich nicht auf eine Stellvertretung des Vorsitzes, fasst den Begriff der Betroffenenvertretung enger, geht zum Thema Verschwiegenheit auch hier nicht auf Anhörungsbeauftragte ein, legt eine angemessene Aufwandsentschädigung für die Mitglieder der Unabhängigen Auf-arbeitungskommissionen und der Betroffenenbeiräte fest (gemäß Empfehlung vom 21.06.2022 des Ständigen Rats der Deutschen Bischofskonferenz), empfiehlt eine verbindliche Grundstruktur für die Berichte der Kommissionen und grenzt schließlich die Aufarbeitung ab von Prävention und Intervention.

 

 

3.2.    Bericht der Abteilung 2: Werner Theisen

 

(1)      Geschichte der Bistumsentstehung

 

Das Bistum Paderborn übernahm mit der Gründung des Bischöflichen Kommissariats Magdeburg 1811/1821/1828 die seelsorgliche Verantwortung. Der Bereich Anhalt (ursprünglich München unterstellt) wird 1868/1921 ebenfalls dem Bistum Paderborn zugeschlagen. Die Zahl der Pfarreien des Bischöflichen Kommissariats Magdeburg erhöhte sich infolge der Industrialisierung bis 1914 von 17 auf 100. Aus dem Eichsfeld, Polen und Schlesien zogen viele Katholiken hierhin.

 

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kommt mit den Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten eine große Zahl von Katholiken (ca. 470 000) in das Erzbischöfliche Kommissariat Magdeburg. In der Zeit von 1945 – 1955 entstanden 108 neue Seelsorge-stellen.

 

Mit der Errichtung der DDR am 07.10.1949 wurde zeitnah ein erzbischöflicher Kommissar bestellt. Propst Wilhelm Weskamm wurde zum zweiten Weihbischof von Paderborn mit Sitz in Magdeburg ernannt und am 30.11. in der St. Sebastianskirche zu Magdeburg zum Bischof geweiht. Der Bischof von Hildesheim übertrug dem erz-bischöflichen Kommissar in Magdeburg die Betreuung der Katholiken des Kreises Blankenburg, die vorher von Hildesheim organisiert wurde.

 

Im Zuge der weiteren Verselbständigung des Kommissariats wird Bischof Johannes Braun zum Apostolischen Administrator in Magdeburg ernannt und aus dem Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg wird das Bischöfliche Amt Magdeburg.

 

Am 08.07.1994 wird nach langwierigen Verhandlungen in Magdeburg das Bistum Magdeburg neu errichtet.

 

 

(2)         Personalzahlen

 

Zum 01.01.2024 waren aktuell 42 Diözesanpriester, 9 Ordenspriester, 7 hauptberufliche Diakone und 2 Diakone mit Zivilberuf im aktiven Dienst. 50 Priester und 14 Diakone sind im Ruhestand.

 

Zum 31.12.2014 waren 68 Priester im aktiven Dienst und 17 ständige Diakone. 58 Priester und 14 Diakone waren im Ruhestand.

 

Im Zeitraum vom 01.01.2000 bis zum 31.12.2014 haben 53 Ordenspriester im Bistum ihren Dienst beendet bzw. sind ausgeschieden oder verstorben, 2 Diakone sind ausgeschieden, einer wechselte in ein anderes Bistum.

 

Vor dem 31.12.1999 waren 12 Priester in ein anderes Bistum gewechselt (meist Paderborn).

 

Vor dem 31.01.1999 sind 20 Ordenspriester aus dem Dienst des Bistums ausgeschieden bzw. verstorben.

 

Im Zeitraum 01.01.2000 bis 31.12.2014 sind 4 Priester aus dem Dienst ausgeschieden.

 

Im Zeitraum 01.01.1946 bis 31.12.1999 sind 30 Priester aus dem Dienst ausgeschieden.

 

Verstorben sind

01.01.1946 – 31.12.1993: 216 Priester

01.01.1993 – 31.12.1999: 57 Priester

01.01.2000 – 31.12.2014: 93 Priester, 7 Diakone

 

 

(3)         Schwierige Grundsätze der Aktenführung Magdeburg / Paderborn

 

Die unter Top 1 aufgeführte Geschichte zeigt, dass die Situation im Bistum Magdeburg aus historischen Gründen „verworren“ und damit auch die Aktenrecherche kompliziert war.

 

Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges war Verwaltung und Organisation zentral in Paderborn geregelt. Alle Kleriker waren dort inkardiniert. Mit der Gründung bzw. Neuerrichtung des Bistums Magdeburg 1994 stand den Priestern die Option offen, die Inkardination im Erzbistum Paderborn wieder „zu aktivieren“ oder im neuen Bistum Magdeburg zu verbleiben.

 

Schwierig ist die Begutachtung der Akten, weil zumindest bis zur Errichtung der DDR sämtliche Originalakten in Paderborn zu verwalten waren. Versetzungen aus dem katholischen Paderborn in das Diasporagebiet wurden ausschließlich in Paderborn erfasst und verwaltet, da dort die zentrale Personalverwaltung stattfand. Wie bereits im Abschnitt zur Bistumsgeschichte aufgezeigt, hat die Verselbstständigung stufenweise stattgefunden. Dies macht eine Betrachtung unübersichtlich und schwierig. Dieser „Mangel der Personalaktenführung“ liegt in diesem Verfahren begründet. Für die „MHG-Studie“ der Bischöfe wurden dabei auch die Akten der „Paderborner Zeit“ gesichtet, soweit die Kleriker hier noch geführt wurden. Einige wenige waren auf eigenen Wunsch nicht im Bistum Magdeburg inkardiniert, sondern mit der Bistumsgründung 1994 nach Paderborn „gegeben“ worden.

 

Die Personalakten der Ruhestandsgeistlichen werden zum großen Teil im Erzbistum Paderborn geführt. Damit ist eine Aktenrecherche Im Ordinariat nur eingeschränkt möglich. Bisher wurden die Akten der im Rahmen der „MHG-Studie“ aufgezeigten Fälle intensiv ausgewertet. Es zeigt sich, dass die Akten während der „DDR-Zeit“ mit wenig aussagekräftigen Unterlagen geführt wurden. Personalverläufe sind daher schwer nachzuvollziehen. Ob mögliche Repressalien des Staates befürchtet wurden oder weshalb kaum eine Verschriftlichung der Entscheidungshintergründe stattfand, bleibt unklar.

 

 

(4)      Schwierige Beispiele

 

(4a)  Fall W.S. (*1903 +1987)

 

W.S. wurde 1929 in Köln geweiht. Er kam dann nach ersten Jahren als Kaplan im Erzbistum Köln aus nicht bekannten Gründen zu unbekannter Zeit ins Erzbistum Paderborn. Dokumentiert ist sein Einsatz in Bernburg ab dem 20.10.1949. Schon 1950 sollte er nach Seehausen versetzt werden. Eine Begründung wurde nicht ausgeführt, die Versetzung schließlich zurückgenommen. Zum 12.08.1952 folgte die Versetzung als Vikar nach Zeitz. Der Pfarrer von Zeitz schrieb am 13.05.1954 und forderte, ihn „selbst bei größtem Priestermangel“ dorthin zurückzuschicken. In einem Schreiben an das Bischöfliche Amt verwies er auf einen Fall „Wolski“ und sprach von „möglichen Eingriffen der Kripo“. Zum 25.04.1956 erfolgte die Versetzung nach Salzwedel und dann am 03.07.1961 nach Eichenbarleben. Aus der Zeit in Salzwedel gab es offenbar sprechende und schweigende Opfer. Mit 66 Jahren wurde er schließlich 1969 zum Pfarrer ernannt – angeblich gab es vorher keine freien Stellen. Es erfolgte erstaunlicherweise zum 20.12.1974 die Ernennung zum „Geistlichen Rat ad honorem“ und nur wenige Monate später zum 15.09.1975 die Versetzung in den Ruhestand mit der Übersiedlung in den Westen. Erkenntnisse liefern die Akten derzeit nicht. Opfer aus der Salzwedeler Zeit sind bekannt.

 

W.S. ist 1987 verstorben.

 

 

 

 

 

(4b)  Fall M.P. (*1949 +2019, 2010 in Magdeburg ausgeschieden)

 

M.P. war Priester des Bistums Essen. Er war rechtskräftig wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Anfänglich wurde er im Bistum Osnabrück „untergebracht“, wo man ihn aber nicht auf Dauer übernehmen wollte. In der Akte des Bistums Essen heißt es: „Wegen verschiedener Schwierigkeiten (Erbangelegenheit in L.; zu enger Kontakt zu Jugendlichen in D.) hat (der örtliche Pfarrer) darum gebeten, … M.P. zum Ende des Monats nach Essen zurückzurufen.“

 

Mit Brief des Bischofs von Magdeburg wurde M.P. zum 01.10.1999 zum Pfarrad-ministrator in B. ernannt. In seiner Zeit als Pfarrer in B. sind keine Vorwürfe sexueller Übergriffe bekannt geworden. Die Pfarrgemeindemitglieder waren über das Vorleben ihres Pfarrers nicht informiert. Aufgrund erneuter Analyse „alter Fälle“ wurde 2010 seitens des Bistums Essen entschieden, dass M.P. in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen war und das bis zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nie eröffnete kirchen-rechtliche Verfahren nunmehr zu betreiben sei.

 

Einsichtigkeit von M.P. ist der Aktenlage nicht zu entnehmen. Alle „Alarmsignale“ während seiner priesterlichen Ausbildung wurden erst im Nachhinein chronologisch zusammengetragen.

 

Immer wieder wird deutlich, dass Kleriker sich gegenseitig unabdingbar schützen. Dem damaligen Bischof von Magdeburg war bekannt, welche Person seine Dienste im Bistum Magdeburg 1999 anbot, da M.P. seine Verurteilung im Lebenslauf klar benannte. Warum angeblich eine Kopie des Urteils gegen M.P. erst 2007 zugegangen ist, überrascht angesichts des Selbstbekenntnisses in seinem Lebenslauf.

 

Trotz der Verurteilungen wurde M.P. lt. Akten der Schulstiftung ein Auftrag zum Religionsunterricht von 2002 – 2006 ermöglicht.

 

Da 2002 die Mutter eines Betroffenen von einem ranghohen Würdenträger um Verständnis ersucht wurde, dass „ein Bischof dazu neigt, den Beteuerungen des Priesters zu glauben“ macht dies deutlich, dass offenbar die Sorge um die Opfer eine geringere Aufmerksamkeit beanspruchte als die um Täter.

Das kirchenrechtliche Urteil erging am 21.04.2016.

 

M.P. verstarb 2019.

 

 

(4c)  Fall F.D. (*1912 +1979)

 

Der Fall F.D. ist nicht in den Listen des Bistums Magdeburg zur „MHG-Studie“ enthalten. Er war lange vorher in das Erzbistum Paderborn übergesiedelt und zudem auch bereits verstorben. Dennoch ist gerade das Zusammenspiel von DDR-Staatsregierung und kirchlichen Stellen mit allen Ausprägungen auch aus hiesiger Sicht zu betrachten. Letztlich wurde der Fall auch betrachtet, da ein Opfer des F.D. sich gegenüber der Kommission äußerte.

 

Frau Prof. Christine Hartig hat den Fall präzise recherchiert und dokumentiert unter der Überschrift: „Können wir es verantworten, ihn frei herumgehen zu lassen?“. Die Überschrift ist ein Zitat aus einem offiziellen kirchlichen Schreiben und macht deutlich, dass allen Beteiligten auch zum damaligen Zeitpunkt die Brisanz bewusst war.

 

Der Fall ereignete sich im heutigen Bistum Magdeburg, damals noch Erzbistum Paderborn. Der Fall und der Umgang damit belegen sehr anschaulich, dass alles getan wurde, um sexuellen Missbrauch durch Kleriker möglichst weit von kirchlichen Institutionen fernzuhalten – dass selbst höchste Verantwortliche eines Erzbistums alle Wege und Mittel zur Vertuschung nutzten.

 

F.D. stammte aus Breslau und arbeitete in Schlesien als Priester und Religionslehrer. Seit 1940 war er Soldat und bis 1946 in russischer Gefangenschaft. Mit vielen anderen vertriebenen schlesischen Priestern kam F.D. dann in den Bereich des Kommissariats Magdeburg. Anfänglich war F.D. in O. tätig in einem Waisenhaus, dann ab 1947 in W. und später in S.

 

F.D. wurde wegen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der ehemaligen DDR zweimal rechtskräftig verurteilt. Nach einem dritten Verfahren wurde er als Gefahr für die Allgemeinheit eingestuft und nach Verbüßung der Haftstrafe in ein Fachklinikum mit Maßregelvollzug in Uchtspringe eingewiesen. Hier kommt es erneut zu Übergriffen – der Paderborner Generalvikar schrieb: „…er wurde in flagranti erwischt“.

 

Seit November 1966 ist dokumentiert, dass seitens der damaligen bischöflichen Behörden in Magdeburg und Paderborn Anstrengungen unternommen wurden, F.D. in den Westteil des Erzbistums Paderborn zu überführen. Im Gegenzug sollte F.D. einen Antrag auf Laisierung stellen. Bedingung seitens des Erzbischofs von Paderborn war, dass es keine Aktenübergabe an westdeutsche Staatsanwaltschaften geben sollte.

 

Die Geschichte nahm nach erfolgreicher „freier“ Übersiedlung ihren Lauf: F.D. widerrief seinen Laisierungsantrag mit dem Hinweis, dass dieser unter Druck gestellt worden sei als einziger Weg in die Freiheit.

 

Die Geschichte ist ein bedrückendes Beispiel, dass sexueller Missbrauch kaum aus Sicht der Opfer gesehen wurde, sondern immer „als Skandalum“, das es in der Öffentlichkeit zu vermeiden gelte.

 

 

(5)      Fazit der Aktenrecherche in 2023:

 

Es gibt auch heute noch deutliche Mängel in der Führung der Personalakten. Eine Personalakte umfasst sämtliche persönlichen Daten: Name, Geburtsdatum, Adresse, etc. Sie soll einen umfassenden Überblick ermöglichen mit Lebenslauf, Bewerbungs-schreiben, Passfoto, Ergebnissen aus Eignungstests, Notizen aus dem Vorstellungs-gespräch, Zeugnissen, ärztlichen Bescheinigungen und polizeilichem Führungszeugnis. Die Arbeitsvertragsunterlagen sind ebenso fortlaufend zu führen mit Aufgaben-beschreibungen, Stellenbeschreibungen etc. Bewertungsprotokolle/Beurteilungen sind Bestandteil und sollen die „Bestenauswahl“ in möglichen Bewerbungsverfahren gewähr-leisten. Natürlich sind diese Grundsätze praxisgerecht zu modifizieren.

Es wird deutlich, dass „Verwaltungshandeln“ im heutigen Bistum Magdeburg nicht überall der Professionalität großer Bistümer entspricht und damit u.U. auch Transparenz erschwert.

 

Die von der deutschen Bischofskonferenz festgelegten Grundsätze der Aktenführung werden – auf Nachfrage: aufgrund knapper personeller und finanzieller Ressourcen – bis heute nicht umfassend angewendet.

 

 

3.3.    Bericht der Abteilung 3: Cathrin Kubrat

 

Einen besonderen Fokus legte die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Magdeburg im Jahr 2023 auf den Bereich der „Sichtbarkeit“ und damit der Öffentlichkeitsarbeit. Dazu wurden in den regelmäßig stattfindenden Sitzungen unterschiedliche Möglichkeiten und Herangehensweisen diskutiert und im Laufe des Jahres umgesetzt.

 

Regionalkonferenzen

Mit Unterstützung des Interventionsbeauftragten, Herrn OR Thomas Kriesel, ständiger Gast der Kommission, entstand Mitte 2022 die Idee, die Arbeit der Kommission auf den jährlich – zu Beginn eines Jahres – stattfindenden Regionalkonferenzen vorzustellen. Die Regionalkonferenzen richten sich an die Priester und Diakone, Gemeindereferent:innen, Mitarbeiter:innen in der Pastoral und Caritas-Regionalstellenleiter:innen des Bistums Magdeburg.

Die Einladung und die damit verbundene Themensetzung zu den Regionalkonferenzen erfolgte über den Fachbereich: „Pastoral in Kirche und Gesellschaft“ des Bischöflichen Ordinariats des Bistum Magdeburg unter der Leitung von Frau Dr. Friederike Maier. Nach einem gemeinsamen Beratungsprozess zwischen Frau Dr. Maier und der UAK wurde als ein zentrales Thema für die Regionalkonferenzen 2023 das Thema: „Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche: Arbeit und Anliegen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs auf dem Gebiet des Bistums; Beratung, Austausch; Informationen zu Prävention“ formuliert.

Der inhaltliche Ablauf wurde gemeinsam mit der Präventionsbeauftragten, Frau Lydia Schmitt, ebenso ständiger Gast der Kommission, vorbereitet und die Veranstaltungen gemeinsam mit jeweils zwei Kommissionsmitgliedern an den folgenden Terminen durchgeführt:

 

·         am 25.01.2023 für die Dekanate Dessau und Torgau (in Zwochau),

·         am 01.02.2023 für die Dekanate Egeln und Halberstadt (in Magdeburg),

·         am 15.02.2023 für die Dekanate Halle und Merseburg (in Zwochau) und

·         am 01.03.2023 für die Dekanate Magdeburg und Stendal (in Magdeburg).

 

Zur Vorstellung der Aufarbeitungskommission entwickelte die Kommission eine PowerPoint-Präsentation. An den Veranstaltungen nahmen jeweils ca. 40-50 Personen teil. Nach der Durchführung der einzelnen Regionalkonferenzen tauschten sich die Kommissionsmitglieder über Rückmeldungen und konkrete Nachfragen der Teilnehmer:innen aus, um diese Erfahrungen in die weiteren Präsentationen – zur genaueren Beschreibung des Anliegens der Kommission – einfließen zu lassen.

 

In den Veranstaltungen nahmen die Kommissionsmitglieder ein großes Interesse zur Auseinandersetzung mit dem Thema: „Missbrauch in der katholischen Kirche“ wahr. Nur sehr vereinzelt gab es den Wunsch, „DAS Thema endlich ruhen zu lassen“.

Aus den Rückmeldungen der Teilnehmer:innen wurde deutlich, dass es ein wichtiger und richtiger Schritt war, sichtbar(er) in die Öffentlichkeit zu treten. Einige Teilnehmer:innen formulierten, dass sie erst nach dieser persönlichen Vorstellung das Anliegen der Aufarbeitungskommission verstanden hätten und erklärten sich bereit, dieses in ihre eigenen Pfarreien und Einrichtungen weiterzutragen. Auch wurde betont, dass es einzelnen wichtig war, „ein Gesicht“ zur UAK zu erhalten. Diese Rückmeldungen wurden auch im weiteren Verlauf des Jahres für die Kommission sichtbar: Nach allen Veranstaltungen meldeten sich Menschen (auch anonym) vertrauensvoll mit Anliegen und Hinweisen an die Kommission. Außerdem wurde die UAK zur Vorstellung der Kommissionsarbeit zu weiteren Veranstaltungen unterschiedlicher Gremien und Institutionen eingeladen, u.a.

 

·         Konferenzen mit den Kirchenvorständen und Pfarrgemeinderäten

am 04.03.2023 in Magdeburg und

am 18.03.2023 in Halle mit jeweils ca. 25 bis 30 Teilnehmer:innen

 

·         Sitzung der Mitarbeiter:innenvertretung des Bischöflichen Ordinariats

am 18.04.2023 in Magdeburg mit 4 Teilnehmer:innen

 

·         Mitgliederversammlung der Katholischen Erwachsenenbildung im Land Sachsen-Anhalt e.V. (KEB) am 31.05.2023 in Magdeburg mit ca. 30 Teilnehmer:innen

 

·         Außerordentliches Mitarbeiter:innen-Treffen des Bischöflichen Ordinariats

mit Schwerpunkt: „Missbrauch-Aufarbeitung (Aktuelles aus der Aufarbeitungs-kommission und Zahlungen des Bistums) sowie die „Essener Studie“ und deren Auswirkungen in unser Bistum am 23.03.2023 in Magdeburg mit ca. 60 Teilnehmer:innen

 

·         Gespräch mit Pfarreivertreter:innen in B. mit Bischof Dr. Feige, OR Kriesel, Herrn Dr. Särchen sowie Frau Schmitt

am 23.03.2023 in B. mit 17 Teilnehmer:innen

 

Info-Flyer

Für die Präsentationsveranstaltungen wurde ein Flyer in Form einer Postkarte mit den Kontaktdaten sowie Öffnungszeiten der Geschäftsstelle der Aufarbeitungskommission veröffentlicht und großzügig – zur Weitergabe in den Gemeinden etc. – verteilt. Für 2024 ist die Erstellung eines umfangreichen Flyers mit bistumsweitem Versand geplant.

 

Website

Um die Sichtbarkeit der Aufarbeitungskommission im Bistum zu erhöhen, wurde eine Website veröffentlicht, auf der wesentliche Informationen wie Kontaktmöglichkeiten, Ansprechpersonen, die Geschäftsordnung der Kommission sowie weiterführende Hinweise zu Hilfsangeboten zu finden sind. Die Website wird von der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle regelmäßig gepflegt und aktualisiert.

 

www.aufarbeitung-im-bistum-magdeburg.de

Geschäftsstelle

Bereits am 15.03.2022 eröffnete die Geschäftsstelle der Aufarbeitungskommission mit Unterstützung des Bistums Magdeburg – als Mieter – attraktive Räume in der Innenstadt Magdeburgs mit zentraler Lage und guter Verkehrsanbindung in der Otto-von-Guericke-Str. 104 (2. Etage; Fahrstuhl ist vorhanden).

 

Zur Sichtbarkeit der Geschäftsstelle der Aufarbeitungskommission wurde an das – vor allem als Wohnhaus genutzte Haus – ein deutliches Schild mit den Kontakt- und Sprech-zeiten der Geschäftsstelle montiert.

 

In der Geschäftsstelle der Kommission laufen die Fäden aller Abteilungen der Kommission zusammen: Es werden hier nicht nur organisatorische Angelegenheiten koordiniert, sondern hier findet auch persönlicher Austausch zwischen den Kommissionsmitgliedern und Besucher:innen statt. Mit der personellen Besetzung mit einer hauptamtlichen Mitarbeiterin ist es der Kommission gelungen, feste Sprechzeiten für telefonische oder persönliche Anfragen wie folgt zu implementieren:

 

Montag bis Donnerstag:   14:00 Uhr bis 16:00 Uhr (oder nach Vereinbarung)

Telefon:                          0391 99047045 (inklusive Anrufbeantworter)

E-Mail:                             info@aufarbeitung-im-bistum-magdeburg.de

 

 

Veröffentlichung der Aktivitäten der Aufarbeitungskommission auf der Website des Bistums Magdeburgs und im Newsletter des Bistums

 

Um über die Aktivitäten der UAK Betroffene, Mitglieder der katholischen Kirche sowie die Mitarbeiter:innen des Bistums Magdeburgs und alle anderen Interessierten zu informieren, wurde auch der Weg der Verteilung von Informationen über die Website des Bistums und des Bistums-Newsletters gewählt. Mit dem Weggang der Pressesprecherin des Bistums im Sommer 2023 und der damit verbundenen Einstellung des Newsletters ist diese wichtige Möglichkeit leider entfallen. 2024 soll – nach einer Neubesetzung der Stelle – dieser Informationsweg wieder aufgenommen werden.

 

Netzwerken

Neben den genannten Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit haben die Mitglieder der Aufarbeitungskommission auch an thematischen Veranstaltungen teilgenommen, um zum einen zur Sichtbarkeit der Kommission beizutragen und zum anderen, um sich durch Impulse „von Außen“ Anregungen für die weitere Kommissionsarbeit einzuholen und um sich selbst fachlich weiter zu qualifizieren. U.a. nahmen Kommissionsmitglieder an folgenden Veranstaltungen teil:

 

  • Fachtagung zum 30-jährigen Jubiläum Wildwasser Magdeburg e.V. am 08.06.2023 in Magdeburg
  • Fachgespräch: „Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR – Fokus Totale Institutionen“ am 04.07.2023 in Magdeburg

 

 

 

 

3.4.    Bericht der Abteilung 4: Maria Urban

 

Die mit dem Bereich wissenschaftliche Vertiefung, Forschung und Studienlage befasste Abteilung 4 der UAK schloss inhaltlich an die im Vorjahr angestoßenen Überlegungen an. Zentral war nach wie vor die Frage, inwieweit die Strukturen der Deutschen Demokratischen Republik sexualisierte Gewalt im Bistum Magdeburg begünstigten, Aufdeckungsvorgänge unterbunden oder übergriffige Personen durch Verschleierungs-maßnahmen schützten.

 

Als wegweisend sind hier die im Februar 2023 veröffentlichten Forschungsergebnisse des Projekts „Aufarbeitung und Dokumentation des sexuellen Missbrauchs von katholischen Priestern und anderen im Dienst der Katholischen Kirche stehenden Personen an Minderjährigen in Mecklenburg“ des Universitätsklinikums Ulm im Auftrag des Erzbistums Hamburg anzusehen. Unter der Leitung von Professorin Dr. Manuela Dudeck verfolgte das Forschungsteam mit einem qualitativen mixed methods Design (Selbstauskunftsfragebögen sowie Zeitzeug:inneninterviews, ausgewertet mittels qualitativer Inhaltsanalyse) das Ziel einer umfassenden „Aufarbeitung und Dokumentation des sexuellen Missbrauchs von katholischen Priestern und anderen im Dienst der katholischen Kirche stehenden Personen an Minderjährigen in Mecklenburg“ zwischen 1946 und 1989 (Rinser et al. 2023: 46). Neben der Bestätigung diverser bereits in anderen Forschungsvorhaben herausgearbeiteter Erkenntniserträge, die die Spezifika der katholischen Kirche und ihre Einflüsse auf das Vorkommen sexualisierter Gewalt in katholischen Einrichtungen beschreiben, fokussieren sich die präsentierten Ergebnisse insbesondere auf die besondere Beziehung der katholischen Kirche zum DDR-Staat. So haben zum einen „Vereinbarungen zwischen Kirche und Staat im Umgang mit den Tätern (z.B. Versetzungen in den Westen) (…) dazu [geführt], dass die Taten nicht öffentlich gemacht wurden“ (Rinser et al. 2023: 146). [1] Zum anderen gab es eine staatlich nicht nur gewollte Tabuisierung von Missbrauchsvorfällen, sondern auch ein Anwerben übergriffiger Kirchenangehöriger der Staatssicherheit zum Zweck der Informationsbeschaffung aus einer Innenperspektive über Vorgänge in der katholischen Kirche (vgl. ebd.)

 

In zeitlicher Nähe zur Ergebnispräsentation des Ulmer Forschungsprojektes fand Anfang März 2023 im Stasi-Unterlagen-Archiv in Halle ein Kooperationstreffen von Mitgliedern der UAK mit der Leiterin der Behörde sowie der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur statt. Alle Beteiligten signalisierten dabei großes Interesse an tiefergehenden Recherchen zur Situation im Bereich des heutigen Bistums Magdeburg zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik und ihre grundsätzliche Kooperationsbereitschaft. Die Leiterin des Stasi-Unterlagen-Archivs in Halle zeigte Wege der regulären Antragsstellung zur Einsichtnahme in potenziell relevante Stasi-Akten auf und ermutigte zur Umsetzung eines wissenschaftlichen Vorhabens.

 

Zu Beginn des Sommersemesters 2023 nutzte die Abteilung 4 den Zeitpunkt der Planung von potenziellen Bachelorthesis-Inhalten von Studierenden der Hochschule Merseburg, um ihnen die UAK und ihre Ziele vorzustellen. Aus der Vorstellung und Erläuterung möglicher Forschungsschwerpunkte ergab sich die Kooperation mit einer Bachelor-studierenden der Sozialen Arbeit, die sich im Anschluss dazu entschloss, ihre Bachelorthesis zum Thema „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker und Mitarbeitende der katholischen Kirche in der DDR am Beispiel des Bistums Magdeburg von 1949-1990. Der Entwurf eines Forschungsdesigns“ zu verfassen. Die Qualifikations-arbeit wurde von Maria Urban erstbetreut, was – in Absprache mit der Studierenden – einen direkten Erkenntnistransfer der Untersuchungsergebnisse in die Tätigkeit der UAK gewährleistete.

 

Als erste wissenschaftliche Untersuchung für das Bistum Magdeburg kann mit der als sehr gut bewerteten Bachelorarbeit nun auf grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse gebaut und das weitere Vorgehen geplant werden. So hält die Absolventin bspw. fest, dass die Tätigkeit der UAK „[e]ine wissenschaftliche, kriteriengeleitete Auseinandersetzung (...) jedoch nicht ersetz[en]“ kann (Leue 2023: 37)[2]. Diese Erkenntnis ist insbesondere ein Rückschluss darauf, dass im Zuge der Recherchemaßen der als Literaturarbeit angelegten Bachelorthesis auch ein Forschungsantrag beim Stasi-Unterlagenarchiv im Bundesarchiv gestellt wurde, der aufseiten der Behörde als aussichtsreich eingeschätzt worden ist. Durch zeitliche Verzögerungen im Archiv konnten die zur Verfügung gestellten Akten letztlich nicht eingesehen und eine Fort-führung dieses Forschungsstranges nicht verfolgt werden. Die erarbeiteten Inhalte wurden entsprechend lückenlos an die Mitarbeitenden der UAK weitergegeben.

Im Zuge der Betreuung der Absolventin stellte das Bistum außerdem umfangreiche Dokumentationen zur Personalsituation zur Verfügung, die u.a. als Zuarbeiten zur MHG-Studie genutzt wurden. Die Sichtung des Materials machte neben Lücken auch potenzielle Ansatzpunkte (z.B. in der Recherche zu Versetzungsstrategien) deutlich.

 

Im Berichtszeitraum wurden Sichtungen der Erkenntnisse und Materialien vorgenommen und Aushandlungsgespräche mit anderen interessierten UAKs aufgegriffen.

 

Im Jahr 2023 fanden weitere Gespräche zum Thema der Bachelorarbeit auf verschiedenen Ebenen statt. Anlässlich des Fachgesprächs am 04.07.2023 in Magdeburg („Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR – Fokus totale Institutionen“), das von der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ der UBSKM organisiert worden war, konnte der Kontakt sowohl zu Frau Claus als auch Herrn Dr. Quintelier, dem jetzigen Leiter des Magdeburger Stasi-Unterlagen-Archivs vertieft werden.

 

Weiter fanden Gespräche mit interessierten Mitgliedern anderer Aufarbeitungs-kommissionen aus Erfurt und Dresden statt. Die Spezifika des Spannungsverhältnisses zwischen totalitärer Staatsorganisation und katholischer Religionsgemeinschaft sind bisher – abgesehen von den oben berichteten Forschungsergebnissen aus dem Bezirk Schwerin – noch nicht repräsentativ erforscht worden. Diese Wissenslücke will unsere Kommission zusammen mit anderen Diözesen (aus dem Bereich der ehemaligen DDR) weiter erforschen.

 

Rein personell gab es in der Abteilung 4 der UAK im Jahr 2023 nennenswerte Veränderungen: Mit dem Ausscheiden von Eva Kubitza als in der Aufarbeitungs-kommission mitwirkende Wissenschaftler:in war die wissenschaftliche Position im Team der UAK zunächst unbesetzt. Im Juli 2023 wurde deshalb Maria Urban als reguläres Mitglied in die Aufarbeitungskommission berufen. Durch ihre vorherige Beraterinnen-tätigkeit war sie mit den bisherigen Arbeitsschwerpunkten der Abteilung 4 (und der sonstigen Tätigkeitsfelder der Aufarbeitungskommission) bereits gut vertraut und konnte somit nahtlos am Beitrag ihrer Vorgängerin anknüpfen.

 

 

3.5.    Bericht Sonstiges: Winfried Schubert

 

Zusammenarbeit

 

Die interdiözesane Zusammenarbeit hat sich im Jahr 2023 bewährt. Um den oben unter Abschnitt 3.2. geschilderten Fall („M.P.“) aufklären zu können, hatten zwei Kommissionsmitglieder am 13.06.2023 die Gelegenheit, die Akten des Bistums Essen einzusehen und die wichtigsten Unterlagen zu kopieren. Eine abschließende Bewertung dieses Falles steht noch aus, die bisherigen Interviews mit verschiedenen Beteiligten müssen noch bewertet und „eingeordnet“ werden. Dem Bistum Essen gebührt Anerkennung und Dank für die unkomplizierte und aufrichtige Zusammenarbeit.

 

Auch die ökumenische Zusammenarbeit hat sich bereits im Jahr 2023 bewährt. Eine polizeiliche Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung, aus der sich der Verdacht auf Kindesmissbrauch ergab, führte zu einem Anruf bei unserer Geschäftsstelle (deren Einrichtung sich ebenfalls bewährt hat). Der ermittelnde Polizeikommissar erkundigte sich im Auftrag des Vernommenen nach vertrauenswürdigen Kontaktpersonen. Da – wie sich herausstellte – eine evangelische Institution betroffen war, wurde der Kontakt zu der zuständigen Pastorin hergestellt und damit dem Betroffenen die richtige Ansprech-person benannt. Diese ökumenische Zusammenarbeit werden wir im Jahr 2024 intensivieren, da auch auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland eine eigene Aufarbeitungskommission gegründet werden soll. Auch hier steht die Hilfe für die Betroffenen an erster Stelle.

 

Informationsgewinnung

 

Im Jahr 2023 standen uns dankenswerterweise zwei „Zeitzeugen“ zur Verfügung, die uns aus dem Leben eines DDR-Bürgers ausführlich und beeindruckend berichteten. Sowohl Bischof Dr. Feige als auch der frühere Sozialminister Norbert Bischoff stellten sich unseren Nachfragen. Diese Zeitzeugen-Interviews sollen uns davor bewahren, ohne gediegene, erlebte Kenntnis zu voreiligen Bewertungen zu gelangen. Einige der Kommissionsmitglieder erlebten die Gnade der „späten Geburt“, andere die „Gnade eines anderen – westlichen – Geburtsorts“. Wir werden diese Zeitzeugengespräche im Jahr 2024 fortsetzen und hoffen, dass sich möglichst niemand diesen Anfragen entzieht, wie es in einem Fall leider geschehen ist („Ich möchte mit Ihnen nicht sprechen“).

Der Mangel der Situationskenntnis des Lebens in der DDR hat sich inzwischen glücklicherweise verringert, da sich zwei Betroffene bereit erklärt haben, in unserer Kommission an der Aufarbeitung mitzuwirken. Nichts kann überzeugender vermittelt werden als die eigenen Erlebnisse. Daran werden wir im Jahr 2024 arbeiten.

 

 

Rechtliches

 

Überrascht hat unsere Kommission ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 10.03.2023, in dem der Augsburger Fundamental-Theologe Prof. Klaus Kienzler unter dem Titel „Genug ist genug“ die These vertritt, die „Vertuschung“ von Missbrauchsfällen sei durch das sog. päpstliche Geheimnis den Bischöfen zur Pflicht gemacht worden. Es benötige dazu keiner weiteren Studien oder Gutachten. Denn in dem vatikanischen Schreiben „De delictis gravioribus“ vom Jahr 2001sei allen Bischöfen – weltweit – aufgetragen worden, Missbrauchsfälle nicht in die Öffentlichkeit zu bringen, sondern an den Vatikan, dort das Glaubensdikasterium zu übersenden. Ein längeres Gespräch mit Prof. Kienzler erbrachte keine eindeutige Rechtslage.

Mehrere Interviews und Korrespondenzen mit Kirchenrechtlern bestätigten die Meinung von Prof. Kienzler nicht. Das päpstliche Geheimnis hatte in der Realität nie die Wirkung, die ihm – in der Theorie – zugeschrieben wird. Es wurde am 06.12.2019 von Papst Franziskus aufgehoben (L‘Ístruzione Sulla Riservatezza delle Cause). Bereits seit 2002 war das päpstliche Geheimnis faktisch aufgehoben, zumindest im innerkirchlichen Rechtsverkehr. So hatten die deutschen Bischöfe bereits 2002 die Verpflichtung anerkannt, strafrechtlich relevante Fälle der Staatsanwaltschaft zu melden und damit offenzulegen.

 

Eine weitere, bisher nicht definitiv gelöste Rechtsfrage – anders als im Hinblick auf das päpstliche Geheimnis – betrifft den Status der Unabhängigen Aufarbeitungskommissi-onen.

 

Die „Gemeinsame Erklärung“ enthält insoweit keine belastbare juristische Aussage. Eine naheliegende Möglichkeit wäre, die Kommissionen als unabhängigen Teil der öffentlich-rechtlichen Körperschaft „Katholische Kirche“ anzusehen. Andere Kommissionen haben sich als selbständiger Verein konstituiert, der von der Diözese finanziell ein Budget zugeteilt bekommt. Wieder andere Kommissionen bevorzugen ein „Stiftungsmodell“. Was vielleicht als typisch juristische „Haarspalterei“ erscheinen mag, hat ernste Konsequenzen: Ist die Kommission ein Teil der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, so arbeitet sie als selbständige „Innenrevision“, zeitgerechter als „Compliance-Officer“ zu bezeichnen. Damit kann ihr der Bischof sämtliche schriftlichen Unterlagen zugänglich machen, ohne das Katholische Datenschutzgesetz zu verletzen. Würden die Unterlagen einem selbständigen Verein zu übergeben sein, ist der Datenschutz möglicherweise ein hohes Hindernis. Die Status-Frage soll in einer Arbeitsgruppe geklärt werden, die der Bundesvorstand der Aufarbeitungskommissionen im Laufe des Jahres 2024 ins Leben rufen wird.

 

 

 

 

 

Bedenkliches

 

Immer wieder werden Stimmen laut, die der Katholischen Kirche – und den von ihr beauftragten Aufarbeitungskommissionen – einen Misserfolg bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs prophezeien. Sätze gehen durch die Medien wie: „Die Kirche schafft das alleine nicht!“ und „Der Staat muss seine Verantwortung ernst nehmen und handeln.“

 

Die Ausführungen unseres Berichts zeigen die Schwierigkeiten einer effizienten Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs auf. Aber wie kann der Staat „helfen“? Dazu werden in Wissenschaft, Medien, Politik und Gesellschaft keine konkreten Vorschläge unterbreitet.

 

Man könnte die Staatsanwaltschaft ermächtigen, auch verjährte Straftaten „aufzuklären“, mit der Konsequenz einer erheblichen Personalmehrung. Man könnte selbständige „Wahrheitskommissionen“ gründen und ihnen die Rechte verleihen, wie sie parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zustehen. Über das „man könnte“ sind wir in Deutschland nicht weitergekommen. Das Rufen nach dem Staat ist gut verständlich angesichts der Tatsache, dass nicht nur Religionsgemeinschaften mit Sexualstraftätern zu tun haben. Aber es fehlt an Vorschlägen, wie „der Staat“ diese Herkulesaufgabe bewältigen kann. Da genügt die – offenbar bewusst provozierende – Ansicht eines Professors auch nicht, man solle die katholische Kirche so behandeln wie auch andere mafiöse Organisationen.

 

 

4.        Zukunft

 

Unser Bericht zeigt die große Arbeitslast auf, die unsere Kommission zu bewältigen hat. Konkret haben wir folgende Aktionen für 2024 geplant:

 

(1)       Aufarbeitung zusammen mit weiteren ostdeutschen Bistümern zu den Interaktionen zwischen staatlichen Organen der DDR und Katholischer Kirche.

 

(2)       Weitere Interviews mit Zeitzeugen zur Situation des „Bistums“ bzw. Jurisdiktionsbezirks Magdeburg in der Vergangenheit.

 

(3)       Fortsetzung der Aktenauswertung, insbesondere mit dem Schwerpunkt „Versetzungen“, „Abordnungen“, „Freistellungen“.

 

(4)       Zusammenarbeit mit evangelischen Kolleg:innen aus den neu zu gründenden Aufarbeitungskommissionen.

 

(5)       Weitere Sichtbarmachung unserer Arbeit bei Vorstellungen in einzelnen Pfarreien mit Unterstützung unserer neuen Kommissionsmitglieder, Initiativen zur Öffentlichkeitsarbeit.

 

(6)       Anregung einer diözesanen Regelung, die allen aktuell kirchlich Beschäftigten eine Auskunftspflicht gegenüber der unabhängigen Aufarbeitungskommission auferlegt.

(7)       Schaffung einer gemeinsamen Geschäftsstelle mit der „unabhängigen Kommission zur Anerkennung des Leids“.

 

(8)       Förderung eines Landes- oder Bundesgesetzes, das für alle kirchlichen Amtsträger eine Anzeigepflicht bei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden oder besonders schutzbedürftigen Erwachsenen normiert.

 

(9)       Förderung eines Bundesgesetzes, das den Mitgliedern der Kommission ein Zeugnisverweigerungsrecht zugesteht, wie es bereits für Beratungsstellen von Schwangeren gilt (Vertraulichkeitsgarantie).

 

(10)    Weitere Mitwirkung bei der Klärung der Status-Frage der unabhängigen Aufarbeitungskommissionen.

 

(11)    Vorbereitung des nach 5 Jahren fälligen vorläufigen Zwischenberichts.

 

 

Einem deutschen Unternehmer wird der Satz zugeschrieben: „Wer etwas wirklich will, findet Wege, wer etwas nicht will, findet Gründe“.

 

Wir wollen Wege finden und sind für jede Unterstützung dankbar.

 

 

 

Magdeburg, April 2024

 

 

 

 

Winfried Schubert                      Michael Giesa                            Bodo Kandner

(Vorsitzender)

 

 

 

 

Cathrin Kubrat                          Wolfgang Stein                          Werner Theisen

 

 

 

 

Maria Urban

 

 



[1] Rinser, Laura/Streb, Judith/Dudeck, Manuela (2023): Abschlussbericht. Aufarbeitung und Dokumentation des sexuellen Missbrauchs von katholischen Priestern und anderen im Dienst der katholischen Kirche stehenden Personen an Minderjährigen in Mecklenburg von 1946 bis 1989. Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Universität Ulm. Online unter: https://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Forensische-Psychiatrie/Abschlussbericht_Final.pdf (abgerufen 15.01.2024).

 

[2] Leue, Pauline Marie (2023): Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker und Mitarbeitende der katholischen Kirche in der DDR am Beispiel des Bistums Magdeburg von 1949-1990: Der Entwurf eines Forschungsdesigns. Hochschule Merseburg, Bachelorarbeit. http://dx.doi.org/10.25673/110860.